Dr. Mike Cray - Aus dem Leben eines Arztes
Es war gegen 17.45, als Dr. Mike Cray seine Praxis verlies, und sich zu drei Gestalten an der Bushaltestelle gesellte, die alle auf den 128er warteten. Der 128! Ein sagenumwobener Bus, wie Dr. Cray zweifelsohne wusste.
An einer bestimmten Strasse passierte der Bus nämlich eine Scheune, in der ein Pferd lebte, das beim Vorbeifahren des Busses wieherte, und sich auf seine Hinterbeine stellte. Diese Atraktion hatte sich im Laufe der Jahre natürlich rumgesprochen, und manchmal bereute Dr. Mike Cray, das er eben mit diesem Bus nach Hause fahren musste. Denn viele Schaulustige nutzten die Bustour am Pferd vorbei um dieses Wunderwerk der Natur zu bewundern. Dadurch war der Bus oft schwer beladen und viele Leute mussten im Gang stehen.
Cray wusste allerdings auch, warum an dieser Bushaltestelle nur drei Menschen mit ihm warteten: Es war die letzte Haltestelle bevor die Fahrt an der besagten Scheune vorbeiführte. Das wiederum bedeutete, das der Bus bereits völlig überladen vorfahren würde, und Cray wurde ganz übel bei dem Gedanken, gleich wieder in diesen völlig überheizten und überfüllten Bus steigen zu müssen. "Aber was hilft´s..." dachte er sich.
In diesem Augenblick bemerkte er einen der wartenden Fahrgäste, einen älteren Herren, der eine kleine Dose fest umklammerte und immer wieder zu Cray herüberblickte. Jetzt nickte er Cray sogar zu und bewegte sich langsam aber zielstrebig zu ihm hin. Dabei blickte er sich nach links und rechts, so als ob niemand bermerken sollte, wie er sich bewegte. Dieses Ansinnen war etwas seltsam, denn die beiden anderen Fahrgäste standen hinter dem älteren Herrn und konnten ihn gut beobachten, was der aber wohl gar nicht bemerkt hatte. Cray war diese Szene fast schon peinlich. "Was ist denn..." zischte er den Mann an, als der nur noch einen knappen Meter neben ihm stand.
Aber die Antwort des Mannes war nicht zu verstehen. "Bszz..." machte der nur, und Cray wurde immer ärgerlicher. Jetzt stand der Mann neben ihm. Wenn es um Situationen im Leben geht, die schwierig sind. Oder besser: Wenn es für Dr. Mike Cray um Situationen geht, die er kennt, dann werden bestimmte Muster in Gang gesetzt, die den Menschen als das auszeichnen was er ist. Viele der Menschen wüssten nicht umzugehen, mit einer Situation wie dieser. Aber Cray war da anders. Gewiss, es war impertinent und aufdringlich, so wie ihn dieser ältere Herr da bedrängte. Und jetzt tat Cray genau das, was ihn so berühmt gemacht hatte. Er selbst ging einen Schritt auf den Mann zu. "Wie kann ich ihnen helfen?" fragte er wie ein Angestellter eines Hamburger-Restaurants. Der ältere Mann war völlig verdutzt. "Ich äh..." stammelte er. "Ja?" sagte Cray. Und da schien der Mann seinen gesamten Mut zusammenzunehmen und sprach als ob er Cray ein Rätsel verkaufen wollte. "Das Pferd..." zischte er. "Das Pferd?" entgegnete Cray, als hätte er keinen blassen Schimmer was der Mann meinte. "Na sie wissen schon, das Pferd..." Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern lehnte sich näher an Cray heran als ein Zahnarzt. Cray roch seine Whiskeyfahne, und strampelte sich etwas frei. "...Das Pferd aus dem Stall..." Und diesen Satz sprach der Mann aus, als wolle er Cray das Staatsgeheimnis Nr.1 mitteilen, als wolle er sagen, wie die Lottozahlen der nächsten Ziehung lauten. "Ach das Pferd aus dem Stall!" rief Cray laut heraus. Der ältere Mann war völlig schockiert. "Nicht so laut!" schrie er noch viel lauter als Cray gsprochen hatte. Dann pirschte er sich erneut an Cray heran. "Sie kennen also das Pferd aus dem Stall?" fragte er nun, machte dabei einen halben Schritt zurück, rieb sich mit dem Ärmel unter der Nase und sah Cray aus seinen kleinen Augenwinkeln an.
Nun war Cray an der Reihe. Ein Sprichwort kam ihm in den Sinn: "Schau mir in die Augen und ich sag dir wer ich bin" Cray kann mit so einem Blick viele Dinge klarstellen. Wie ernst ist die Situation? Was ist zu befürchten? Attacke! "Natürlich kenne ich das Pferd aus dem Stall, wer kennt es nicht." Cray sagte das ohne eine Regung in der Stimme. Der Mann strich sich übers Kinn, so als wolle er sagen: "Jetzt ist es nicht mehr nur mein Geheimnis..." Gleichzeitig setzte er zum Sprechen an: "Dieses Pferd..." Und das war der Punkt an dem Cray keine Lust mehr hatte. Der Tag war schwierig gewesen, viele Patienten, ungewöhnliche Fälle. Ein Mann mit Fleckenfieber hatte sich gemeldet, war aber nicht in der Praxis erschienen. Jetzt dieser Vogel hier, das war Cray einfach zuviel. "Hören sie..." setzte Cray an, aber der Mann schien gemerkt zu haben, das Cray nicht mehr konnte. "In diesem Kasten ist ein Gerät, das auf Knopfdruck einen Ton sendet, der das Pferd am Boden hält!"
Unglaublich klar hatte der sonst so wirr scheinende Mann diesen Satz ausgesprochen. Cray war froh endlich das Thema zu kennen und setzte ohne Pause nach. "Aber warum wollen sie denn das das Pferd nicht wiehert?" fragte er den Mann, der sich jetzt an Crays Mantel festhielt, und in den Boden zu sinken schien. "Ich weiss es nicht!" war das einzige, was er hervorbringen konnte. "Ich weiss es beim besten Willen nicht!" und dieser Satz stand so aufrichtig, ja so ehrlich im Raum, das Cray nicht an ihm zweifelte.
Gleichzeitig setzte sich bei seinem Gegenüber ein riesiger Tränenschwall in Gang. Wäre es nicht heute, und würden sie nicht schon seit einer viertel Stunde auf den Bus warten, Cray hätte sich ohne zu zögern seiner angenommen, ihn getröstet, seine Geschichte hinterfragt, ja ihn vielleicht sogar auf ein Gläschen in das gegenüberliegende Bistro eingeladen, dessen Besitzer gerade die Stühle auf die Tische stellte. Wo blieb eigentlich der Bus? Er hatte bereits 10 Minuten Verspätung und als Cray sich umblickte musste er erkennen, das die anderen Fahrgäste bereits aufgegeben hatten oder sich anderwertig beschäftigten, auf jeden Fall waren er und der ältere Mann die beiden einzigen, die noch an der Haltestelle ausharrten.
Der Mann hatte inzwischen alle Hemmungen über Bord geworfen und heulte sich an Crays Schulter aus. Cray blickte nach dem Bus und versuchte möglichst unbeteiligt zu schauen, konnte aber nicht verhindern, das Passanten dieses seltsame Paar doch genau musterten. Endlich, da kam der Bus und diesesmal hoffte Cray innichst, das er voll war, damit er sich im Gewühl von seinem Anhängsel trennen konnte. Schwer wie ein Ozeandampfer mit Schlagseite bog der Bus um die Ecke. Der Fahrer hielt unmittelbar so vor Cray, das die beiden sich in die Augen sahen. An seinem Fenster öffnete der Fahrer eine winzige Luke. Nun konnte man auch sehen, warum der Bus so schwankte. Er war so voll mit Menschen beladen, das Cray nicht weniger als vier Fahrgäste ausmachte, die sich ihre Gesichter an den Scheiben plattdrückten und dabei grosse Schmerzen zu ertragen schienen.
Der Fahrer hatte also diese Luke geöffnet, ein kleines Ausstellfenster das in keinem Verhältnis zu der restlichen Grösse des Busses stand. Er sah Cray mit dem heulenden Mann an, und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Selbst in diesem Moment notierte Cray: "Emotionen bei älteren Männern werden belächelt" So hatte es zumindest mal in einem Glückskeks gestanden, den Cray von einem Patienten geschenkt bekam, dessen Frau er von einer schweren "Melenge" erlöst hatte.
"Tut mir leid Sir, aber wir sind restlos überfüllt!" Der Busfahrer sprach diesen Satz und strahlte dabei so sehr, das es nur noch eine Frage von Sekunden sein konnte, bis er völlig loslachte. "Das sehe ich!" sagte Cray "Aber wann kann ich mit dem nächsten Bus rechnen?" Der Fahrer machte darauf ein Gesicht das man überhaupt nicht deuten konnte. War es verheissungsvoll? Oder völlig abwegig? Gab es einen Fahrplan, oder war hier soeben die "völlige Anarchie ausgebrochen" wie die Stadtzeitung am nächsten Tag titeln sollte. Ein Fahrgast hatte das Gepräch wohl mitghört und schrieb mit seinen Fingern an die von innen beschlagene Scheibe "HEUTE NICHT MEHR" konnte Cray mit Mühe entziffern, und kaum das er das getan hatte, machte der Bus einen Satz und war weg.
Cray stand da und dachte: "Irgendwas fehlt..." Und tatsächlich, der Mann der vor wenigen Augenblicken an seiner Schulter heulte wie ein Schlossund war weg. Cray blickte dem Bus hinterher, der weiter schwer schlingernd um die Ecke bog. Und da konnte Cray ein Stück des Mantels des älteren Herrn entdecken. Der musste es wohl geschafft haben, in die hintere Tür einzusteigen und dabei hatte sich der Mantel verklemmt. "Aufrecht am Boden den Himmel erklomen" Cray hasste dieses Sprichwort das ihm da in den Sinn kam, weil es eigentlich "erklommen" heissen musste, aber wie die Welt so ist, man änderte die Dinge damit sie passten, und all ihren Spass dran hatten. Und in diesem Augenblick musste Cray laut loslachen. Die Vorstellung, das der Mann mit dem Kasten beim Pferd den Knopf drücken würde, damit es nicht wiehert und am Boden bleibt, war komisch. Aber Crays Wissen das er das auch noch in einem völlig überladenen Bus tun würde, indem sowieso niemand nach dem Pferd sieht, das war schon genial.
Cray zog eine Zigarette aus der Packung, gab sich Feuer, setzt sich auf die kleine Bank des Wartehäuschens, und war zufrieden und frei.
© Mike Bols 2003